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5. Dezember 2024 Steuerdomizil in einem Tiefsteuerkanton – Zulässige Steueroptimierung oder gar strafbare Steuerhinterziehung?

In zwei Leading Cases (BGE 149 II 354 und BGE 150 II 321) hat das Bundesgericht festgehalten, dass in interkantonalen Doppelbesteuerungsfällen, in denen festgestellt werde, dass der tatsächliche Sitz vom statutarischen Sitz abweicht, der zur Besteuerung berechtigte Kanton dem Fehlverhalten der steuerpflichtigen Person nicht hilflos ausgeliefert sei. Ein solches Fehlverhalten, v.a. die fehlerhafte Deklaration oder die Erteilung falscher und unvollständiger Auskünfte erfülle regelmässige den Tatbestand der (versuchten) Steuerhinterziehung. 

Fragestellung

Der vorliegende Blog geht der Frage nach, ob eine Gesellschaft, deren statutarischer Sitz sich nicht mit ihrem tatsächlichen und wirtschaftlichen Mittelpunkt deckt und die diese Tatsache dem Fiskus verschweigt, wegen (versuchter) Steuerhinterziehung bestraft werden kann.

Analyse

A. Gegenstand der Mitwirkungspflicht

Nach dem Gesetzeswortlaut von Art. 175 DBG bzw. § 235 StG ZH genügt es, wenn der Steuerpflichtige bewirkt, dass eine Veranlagung zu Unrecht unterbleibt oder dass eine rechtskräftige Veranlagung unvollständig ist. Die Norm wird dahingehend ausgelegt, dass die Tathandlung der Steuerhinterziehung stets eine Verfahrenspflichtverletzung (Art. 124 bis 126 DBG) durch den Täter voraussetzt.

Wichtigste Verfahrenspflicht auf Seiten der steuerpflichtigen Person ist die allgemeine Mitwirkungspflicht gegenüber den für sie zuständigen Steuerbehörden (Art. 126 DBG bzw. § 135 StG ZH): Der Steuerpflichtige muss alles tun, um eine vollständige und richtige Veranlagung zu ermöglichen. Insbesondere muss er das Formular für die Steuererklärung wahrheitsgemäss und vollständig ausfüllen (Art. 124 Abs. 2 DBG); dazu hat er bestimmte Beilagen einzureichen, und er trägt die Verantwortung für die Richtigkeit und Vollständigkeit der Steuererklärung. Ohne diese Kooperationspflicht lässt sich der rechtserhebliche Sachverhalt durch die Steuerbehörden nicht oder nur mit unverhältnismässigem Aufwand feststellen. Die Mitwirkungspflicht bezieht sich auf das Veranlagungsverfahren (und nicht auf das Steuerhoheitsverfahren) und stellt das Korrelat zum (weitgehenden) Verzicht des Staates auf Zwangsmittel in diesem Verfahren dar.

B. Beginn der Mitwirkungspflicht

Es stellt sich die Frage, wann die Mitwirkungs- oder Auskunftspflicht des präsumtiven Steuerpflichtigen beginnt.

Gemäss dem relativ jungen Urteil des Bundesgerichts 2C_480/2019 vom 12. Februar 2020, E. 2.3.4, und der herrschenden Lehre lässt sich keine Mitwirkungspflicht aus Art. 123 Abs. 1 und Art. 126 Abs. 1 DBG herleiten, solange das Steuerrechtsverhältnis (kraft persönlicher oder wirtschaftlicher Zugehörigkeit) zwischen der steuerpflichtigen Person und der Steuerbehörde nicht feststeht. Solange nicht feststeht, ob ein präsumtiv Steuerpflichtiger tatsächlich steuerpflichtig ist, dürfen an die Verweigerung der Mitwirkung nach der Rechtsprechung des Verwaltungsgerichts Zürich keine Sanktionen geknüpft werden. Ist die Steuerpflicht (noch) nicht bewiesen und beansprucht der Kanton die Steuerhoheit einer bisher in einem anderen Kanton steuerpflichtigen Person, trifft diese keine Mitwirkungspflicht weil durch eine solche über die vom Bundesgericht entwickelten Regeln zum Doppelbesteuerungsverbot hinausgehende Ausdehnung der Hoheitsgewalt in die vom Bund zu gewährleistende Souveränität eines anderen Kantons eingegriffen würde. In einem jüngeren Urteil des Verwaltungsgerichts Zürich soll die Mitwirkungspflicht sogar erst dann entstehen, wenn deren Steuerpflicht im Kanton rechtskräftig feststeht.

Demgegenüber vertreten zwei Autoren in einem Artikel die These, im Steuerdomizilverfahren bestehe eine umfassende Mitwirkungspflicht hinsichtlich der steuerdomizilbestimmenden Faktoren. Aus der bundesgerichtlichen Rechtsprechung sei nicht abzuleiten, dass die präsumtiv steuerpflichtige Person im Domizilverfahren von jeder Mitwirkung entbunden wäre. Sie befürworten überraschend eine Auslegung von Art. 42 StHG unter teleologischen Gesichtspunkten: "Als Steuerpflichtiger im Sinne dieser Bestimmung muss deshalb auch gelten, über wessen subjektive Steuerpflicht gegenüber dem Kanton noch nicht negativ entschieden ist."

Im Urteil 2C_398/2021 vom 23. Dezember 2021 (BGE 148 II 285), E. 5.1.1, wird ohne weitere Begründungen und Ausführungen festgehalten, dass entgegen gewissen Lehrmeinungen der Steuerpflichtige auch dann zur Mitwirkung verpflichtet sei, wenn die Steuerhoheit des Kantons zur Diskussion stehe. Auf das Urteil 2C_480/2019 vom 12. Februar 2020, das zum gegenteiligen Schluss kam, wird kein Bezug genommen.

Im Urteil 2C_211/2021 vom 8. Juni 2021, E. 5.1.1, wird die umfassende Mitwirkungspflicht im Steuerdomizilverfahren bezüglich steuerdomizilrelevanter Faktoren kaltschnäuzig bestätigt.

Im bundesgerichtlichen Präjudiz 9C_133/2023 vom 22. Juni 2023, E. 3.2, wird die "neue Lehrmeinung" der beiden Autoren im Dreierurteil sogar exklusiv zitiert. Die Tatsache, dass das Bundesgericht seine noch im Urteil 2C_480/2019 vom 12. Februar 2020, E. 2.3.4, unmissverständlich zum Ausdruck gebrachte Meinung um 180 Grad geändert hat und die neue Meinung lediglich von zwei Autoren getragen wird, wobei einer als Gerichtsschreiber die Kehrtwende mitzuverantworten hat, wird vom höchsten Gericht gänzlich ausgeblendet. Dies wiederum lässt vermuten, dass sich der Spruchkörper des Bundesgerichts der Kehrtwende und der möglichen Tragweite seines Entscheids gar nicht bewusst war.

Streitgegenstand der obigen Urteile, die nach dem 12. Februar 2020 gefällt wurden, war stets die Frage, inwieweit der präsumtiv Steuerpflichtige an der Feststellung seiner Steuerpflicht mitwirken muss. Ob er die Steuerbehörden proaktiv darüber zu informieren hat, dass er eine unbeschränkte oder beschränkte Steuerpflicht in einem Kanton begründet oder begründen könnte, wurde nicht entschieden.

Die Erwägung 3.1.1. im BGE 148 II 285: "Entgegen gewissen Lehrmeinungen ist der Steuerpflichtige praxisgemäss auch dann zu einer gewissen Mitwirkung verpflichtet, wenn die Steuerhoheit des Kantons zur Diskussion steht und die Steuerbehörde deshalb vorab einen Steuerdomizilentscheid trifft", ist dergestalt zu verstehen, dass die Mitwirkungspflicht frühestens dann entsteht, wenn die Steuerbehörde aktiv wurde und den Beweis erbringen konnte, dass die Person in ihrem Kanton eine beschränkte oder unbeschränkte Steuerpflicht begründet hat. Zuvor hat die kraft ihres statutarischen Sitzes unbeschränkt steuerpflichtige Person keine Mitwirkungspflichten, geschweige denn eine Auskunftspflicht gegenüber ausserkantonalen Steuerbehörden.

Antwort

Die Behauptung (E. 2.5.3) im BGE 149 II 354, ein qualifiziertes Fehlverhalten im interkantonalen Verhältnis «werde regelmässig den Tatbestand der versuchten Steuerhinterziehung erfüllen», trifft auf den in diesem Blog diskutierten Sachverhalt nicht zu. Dort wird die antiquierte Verwirkung des Beschwerderechts (weitgehend) fallengelassen. Bei der Verwirkung des Beschwerderechts handelte es sich um Fälle, wo eine Steuerpflicht anerkannt wurde, obwohl man Kenntnis von einem kollidierenden Steueranspruch hatte. Es ging damit nicht um Steuerdomizilverfahren, sondern bereits um bewusst «provozierte» Steuerpflichten und damit Mitwirkungspflichten. Bei der vorliegenden Konstellation (Sitz in einem Kanton, Verschweigung der tatsächlichen Verwaltung in einem anderen Kanton) stehen aber regelmässig Steuerrechtsverhältnisse und nicht Steuerpflichten zur Diskussion, weshalb auch die obige Erwägung 2.5.3 nicht einschlägig ist. Vor diesem Hintergrund ist die eingangs gestellte Frage, ob eine (versuchte) Steuerhinterziehung vorliegen kann, mit "Nein" zu beantworten.

Der Autor setzt sich in einem Essay unter dem Titel "Fiskalisch motivierte Wahl eines Steuerdomizils – gemein- und steuerstrafrechtliche Aspekte" im Heft 4/2024 der Zürcher Steuerpraxis (ZStP) vertieft mit dieser Frage auseinander.

Autor: Tobias F. Rohner

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