
Die Revision der Schweizerischen Zivilprozessordnung (ZPO) zielt darauf ab, bestehende Lücken zu schliessen und die Handhabung durch Gerichte und Parteien zu optimieren. Bei der Überprüfung der Praxistauglichkeit der ZPO wurde festgestellt, dass es ihr an Bestimmungen zur Handhabung und zur Fristwahrung fehlt, wenn Eingaben bei einem unzuständigen Gericht eingehen. Der Gesetzgeber hat dies in der Revision aufgegriffen und eine Pflicht des irrtümlich angerufenen Gerichts zur Weiterleitung an das zuständige Gericht eingeführt. (Art. 143 Abs. 1bis nZPO). Dieser Schritt soll die Rechtssicherheit und Effizienz im Verfahren erhöhen und dazu beitragen, dass Parteien bei Einreichungsversehen keinen Nachteil erleiden.
1. Regelungsinhalt der Weiterleitungspflicht
Mit Einführung der Weiterleitungspflicht gilt, dass irrtümlich an ein unzuständiges Gericht in der Schweiz eingereichte Eingaben dennoch als rechtzeitig eingereicht gelten, sofern diese Einreichung fristgerecht erfolgt ist. Diese Neuregelung erweitert die bisherige Rechtsprechung zu versehentlich bei der Vorinstanz eingereichten Rechtsmitteln (BGE 140 III 636) und schreibt eine Pflicht zur automatischen Weiterleitung durch das unzuständige Gericht fest. Dies betrifft nicht nur Rechtsmittelverfahren, sondern jede Art von Verfahren und Eingaben, die irrtümlich beim falschen Gericht oder bei einer unzuständigen Schlichtungsbehörde eingehen.
2. Unklarheiten und offene Fragen
2.1 Was bedeutet "irrtümlich"?
Ein zentraler Punkt der Neuregelung ist die Definition des Begriffs "irrtümlich". Unklar ist, ob auch Fälle erfasst sind, in denen die Partei die Eingabe bewusst beim unzuständigen Gericht einreicht, etwa in Unkenntnis der richtigen Zuständigkeit, aufgrund einer Fehlinterpretation der Verfahrensvorschriften oder zum Zeitgewinn. Zu klären ist, ob ein solches Verhalten noch als "irrtümlich" gilt oder ob die Regelung auf unverschuldete Irrtümer beschränkt ist.
2.2 Gewährung des rechtlichen Gehörs vor Anordnung der Weiterleitung
Es ist zu prüfen, ob den Parteien vor Anordnung der Weiterleitung das rechtliche Gehör gewährt werden muss. Bei dispositiven Gerichtsständen, bei denen die Parteien die Möglichkeit zur Einlassung haben, könnte eine abweichende Handhabung gerechtfertigt sein und muss erst noch durch die Rechtsprechung geklärt werden, in welchen Konstellationen die Gewährung des rechtlichen Gehörs zwingend ist.
2.3 Entscheidung des Gerichts über die Weiterleitung
Gemäss herrschender Lehre ist davon auszugehen, dass das unzuständige Gericht, welches eine Eingabe erhält und weiterleitet, einen Nichteintretensentscheid mit Anordnung der Weiterleitung erlässt.
2.4 Wiederholung von Prozesshandlungen durch das Zweitgericht
Ein weiterer relevanter Aspekt ist, ob das Zweitgericht, an das die Eingabe weitergeleitet wird, die Wiederholung bestimmter Prozesshandlungen verlangen kann, wenn das Verfahren bspw. schon fortgeschritten ist. Diese Frage berührt den Unmittelbarkeitsgrundsatz, der eine direkte und persönliche Wahrnehmung durch das Gericht fordert. Dies muss nach der hier vertretenen Auffassung möglich sein, um sicherzustellen, dass Verfahrensabläufe kohärent bleiben und keine inhaltlichen Abstriche bei der Beurteilung der Sache entstehen.
3. Fazit
Die Einführung der Weiterleitungspflicht verbessert die Verfahrenssicherheit und stellt sicher, dass Parteien bei versehentlicher Fehladressierung einer Rechtsschrift keinen Rechtsverlust erleiden. Dennoch bleiben einige Fragen offen, die einer Klärung durch die Rechtsprechung bedürfen, um Rechtssicherheit zu schaffen und eine reibungslose Anwendung der Neuregelung zu gewährleisten. Das Prozessteam von VISCHER steht Ihnen jederzeit zur Verfügung, um im Rahmen der Prozessführung zu beraten oder zu vertreten.
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Autor: Quirin Meier