
Das Schweizerische Zivilprozessrecht erfährt mit der Einführung des neuen Art. 177 der Zivilprozessordnung (ZPO) eine bedeutsame Änderung. Bisher galten einzig gerichtliche Gutachten – also vom Gericht in Auftrag gegebene Expertisen einer sachverständigen Person – als zulässige Beweismittel. Parteigutachten – d.h. Expertisen, welche von einer der Parteien in Auftrag gegeben wurden – waren hingegen nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichts für sich allein nicht zum Beweis geeignet. Sie waren weder Gutachten i.S.v. Art. 183 ff. ZPO noch Urkunden i.S.v. Art. 177 ff. ZPO. Vielmehr stellten Parteigutachten bis anhin blosse Parteibehauptungen dar, welchen allenfalls zusammen mit nachgewiesenen Indizien ein gewisser Beweiswert zukam. Mit der ZPO-Revision, die am 1. Januar 2025 in Kraft tritt, ändert sich die Beweismittelwirkung von Parteigutachten. Art. 177 nZPO sieht nämlich vor, dass ihnen künftig Urkundenqualität zukommt und sie somit zulässige Beweismittel i.S.v. Art. 168 Abs. 1 lit. b ZPO darstellen.
Diese Änderung ist zu begrüssen, zumal sich die gesetzlich vorgesehene vorsorgliche Beweisführung – also die Möglichkeit auch gegen den Willen der Gegenpartei vorsorglich ein gerichtliches Gutachten zur Beweissicherung oder Beurteilung der Prozesschancen zu erlangen – in vielen Fällen als nicht praxistauglich erwiesen hat, unter anderem aufgrund der zu langen Verfahrensdauer und der zu hohen Kosten. Dies beispielsweise bei Baumängeln, welche rasch behoben werden müssen und danach nicht mehr nachweisbar sind. Hier wird das Parteigutachten zusätzlich an Bedeutung gewinnen.
Die Bedeutung dieser Änderung
1. Zwingende Würdigung durch das Gericht
Bisher stellten Parteigutachten bestenfalls eine besonders gut substantiierte Parteibehauptung dar, der allerdings mit einer (ebenso) fundierten Bestreitung entgegnet werden konnte. Das Parteigutachten vermochte jedoch keinen Beweis zu erbringen. Kommt dem Parteigutachten als Urkunde neu Beweisqualität zu, so ist das Gericht verpflichtet, es im Rahmen der freien Beweiswürdigung zu würdigen (Art. 157 ZPO).
Welcher Beweiswert einem Parteigutachten konkret beizumessen ist, wird vom Gericht, das sämtliche Beweismittel nach freiem Ermessen beurteilt, anhand der konkreten Umstände im Einzelfall zu beurteilen sein. Die Fachkompetenz und Reputation des Gutachters, der Grad seiner Unabhängigkeit, sowie weitere Faktoren werden sich auf die Beurteilung des Beweiswerts des Parteigutachtens auswirken.
2. Summarisches Verfahren
Im summarischen Verfahren sind weiterhin nur Urkunden als Beweismittel zugelassen. Die Erstellung eines gerichtlichen Gutachtens kann im summarischen Verfahren nicht verlangt und als Beweis verwendet werden. Weil Parteigutachten neu Urkunden darstellen, qualifizieren sie sich in summarischen Verfahren als zulässige Beweismittel, was den Parteien in diesen Verfahren zusätzliche Möglichkeiten eröffnet.
Relevanz für bereits hängige Verfahren
Bemerkenswert ist schliesslich, dass gemäss Art. 407f nZPO die Neuregelung betreffend Parteigutachten auch für Verfahren gilt, die zum Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung bereits rechtshängig sind. Ist der Zivilprozess am 1. Januar 2025 noch nicht abgeschlossen, so muss ein bereits zuvor eingereichtes Parteigutachten vom Gericht fortan als Beweismittel i.S.v. Art. 168 ZPO und nicht mehr als blosse Parteibehauptung behandelt und im Rahmen der freien gerichtlichen Beweiswürdigung berücksichtigt werden.
Fazit
Die Anerkennung von Parteigutachten als Urkunden und damit als Beweismittel ist zu begrüssen. Das Gericht kann künftig solche Gutachten nicht ohne Weiteres als Parteibehauptung abtun, sondern muss sich im Rahmen der freien Beweiswürdigung vertieft damit auseinandersetzen. Dennoch dürfte Parteigutachten künftig nicht der gleiche Beweiswert wie gerichtlichen Gutachten beigemessen werden: Der vom Gericht eingesetzte Gutachter muss nämlich weiterhin unbefangen sein und unterliegt der Strafandrohung von Art. 307 StGB, wonach er zur Wahrheit verpflichtet ist – ganz im Gegensatz zum Privatgutachter, welcher diesen Pflichten nicht unterliegt. Dies wird im konkreten Einzelfall bei der Beurteilung des Beweiswerts von Parteigutachten zu berücksichtigen sein.
Falls Sie zum Thema Parteigutachten und gerichtliche Gutachten Fragen haben oder Unterstützung im Rahmen einer konkreten Streitigkeit benötigen, steht Ihnen das Prozessteam von VISCHER jederzeit gerne zur Verfügung.
Hier finden Sie die Übersicht zur ZPO-Blogreihe.
Autorin: Ilaria Ianieri