
Der Bundesrat beabsichtigt durch die Revision des BehiG Menschen mit Behinderung im Bereich der Arbeit und dem Bezug von Dienstleistungen zu stärken. Konsequenzen sind insbesondere für Anbieter von Online-Diensten zu erwarten.
Hintergrund
Die Schweizer Rechtsordnung hat sich in den letzten Jahren zunehmend mit den Herausforderungen der Inklusion von Menschen mit Behinderungen auseinandergesetzt. Die vollständige gesellschaftliche und berufliche Integration von Menschen mit Behinderungen bleibt aber eine anspruchsvolle Aufgabe. Gemäss dem Bundesamt für Statistik leben rund 20% der Schweizer Wohnbevölkerung mit einer Behinderung.
Der Bundesrat will deshalb durch eine Revision des Behindertengleichstellungsgesetzes ("BehiG") die Rahmenbedingungen für Menschen mit Behinderung verbessern. Im Dezember 2024 verabschiedete er den Entwurf zur Revision des BehiG (E-BehiG; Botschaft). In seiner Botschaft betont er, dass für diese Personen ein selbstbestimmtes Leben und die Gleichstellung am öffentlichen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Leben noch nicht möglich ist, weshalb eine Revision des Behinderten-gleichstellungsgesetzes als notwendig sei.[1]
Ziel der Revision des BehiG ist es, diskriminierende Barrieren im Bereich der Arbeit und der Dienstleistungen abzubauen und die Rechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Die revidierte Fassung des BehiG erweitert dessen Anwendungsbereich und verpflichtet neu private Dienstleistungsanbieter und Arbeitgeber dazu, durch zumutbare Massnahmen sicherzustellen, dass keine Benachteiligung von Menschen mit Behinderung erfolgt.[2]
Die Revisionsvorlage berücksichtigt internationale und europäische Entwicklungen im Bereich der Barrierefreiheit und zielt darauf ab, die Schweiz stärker in das europäische Normensystem zu integrieren.
Benachteiligung vs. Diskriminierung
Aktuell unterscheidet das BehiG zwischen einer "Benachteiligung" und einer "Diskriminierung". Unter der Benachteiligung wird das Vorliegen einer rechtlichen oder tatsächlichen Schlechterstellung ohne sachliche Rechtfertigung verstanden (Art. 2 Abs. 2. BehiG). Die Definition umfasst sowohl direkte als auch indirekte Formen der Diskriminierung, die auf Vorurteilen oder Barrieren beruhen, die den Zugang zu Dienstleistungen und Arbeitsmöglichkeiten erschweren.
Der Begriff der Diskriminierung ist viel enger gefasst. Eine Diskriminierung liegt vor, wenn "Behinderte besonders krass unterschiedlich und benachteiligend behandeln mit dem Ziel oder der Folge, sie herabzuwürdigen oder auszugrenzen" (Art. 2 lit. d BehiV).
Gegenüber Privaten haben Menschen mit Behinderung aktuell grundsätzlich nur einen Anspruch auf Nichtdiskriminierung (Art. 6 und Art. 8 BehiG). Die erweiterte Anforderung, Benachteiligungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen, betrifft nur einen eng definierten Adressatenkreis (öffentliche Bauten und Anlagen, öffentlicher Verkehr und Gebäude ab einer bestimmten Grösse, Aus- und Weiterbildung sowie öffentlich-rechtliche Arbeitsverhältnisse des Bundes, vgl. Art. 3 BehiG).
Angesichts des Ziels des Bundesrats, den Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken, erachtet er die Unterscheidung zwischen Diskriminierung und Benachteiligung heute als nicht mehr gerechtfertigt. Das revidierte BehiG soll daher nur noch den Begriff der Benachteiligung verwenden, um den Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen zu stärken. Eine Benachteiligung soll als Diskriminierung i.S. der Bundesverfassung (Art. 8 Abs. 2 BV) interpretiert werden.[3]
Wer soll dem E-BehiG neu unterstehen?
Der Bundesrat beabsichtigt folgende Gruppen neu explizit unter dem BehiG zu verpflichten:
- Das BehiG soll auch für "Dienstleistungen Privater" (Art. 6 E-BehiG) gelten; also Private, die Dienstleistungen öffentlich anbieten. Damit sind insbesondere auch "digitale Dienstleistungen", die im Rahmen einer wirtschaftlichen Tätigkeit angeboten werden, gemeint. Einen besonderen Fokus legt der Bundesrat dabei auf Online-Geschäfte.
- Das BehiG soll neu nicht mehr nur für das Bundespersonal gelten, sondern auch für private Arbeitsverhältnisse sowie Arbeitsverhältnisse nach kantonalem Recht und kommunalem Recht – also faktisch für alle Arbeitsverhältnisse (Art. 3 Bst. g E-BehiG).
Zudem werden die Schwellenwerte für BehiG-Anforderungen an Gebäude reduziert, insbesondere von 50 auf 25 Arbeitsplätzen und von acht auf sechs Wohneinheiten; damit will der Bund gemäss Botschaft die strengere Praxis gewisser Kantone übernehmen.
Konsequenzen im Bereich des Arbeitsrechts
Die unter dem E-BehiG neu verpflichteten Arbeitgeber und Anbieter von Dienstleistungen dürfen Arbeitnehmende bzw. Kunden mit Behinderung nicht benachteiligen und müssen angemessene Vorkehrungen treffen, um Benachteiligungen in Zusammenhang mit Behinderungen zu verhindern, zu verringern und zu beseitigen (Art. 6 und 6a E-BehiG). Die "Angemessenheit" richtet sich dabei insbesondere nach der Grösse und den finanziellen Möglichkeiten des Unternehmens, nach der Anzahl Personen, welche die Dienstleistung in Anspruch nehmen sowie das Ausmass der Beeinträchtigung.
Konsequenzen im Bereich der Dienstleistungen
Neu unterstehen Dienstleistende der Pflicht, angemessene Vorkehrungen im Einzelfall zu treffen, um Benachteiligungen bei der Nutzung von Dienstleistungen zu verhindern, zu verringern oder zu beseitigen. Diese Regelung soll sowohl für physische als auch für digitale Dienstleistungen gelten.[4]
Private Anbieter digitaler Dienstleistungen sollen gemäss E-BehiG verpflichtet sein, ihre Angebote so zu gestalten, dass Benachteiligungen verhindert oder verringert werden. Im Vordergrund steht dabei der elektronische Vertrag (z.B. Onlinekauf) sowie Produkte und Dienstleistungen der Informations- und Kommunikationstechnik. Der Bundesrat soll die Kompetenz erhalten, im Einklang mit den internationalen und europäischen Rechtsvorschriften einen Mindeststandard für die Barrierefreiheit festzulegen.[5] Im Fokus stehen dabei zwei EU-Richtlinien, die in der revidierten Fassung des BehiG berücksichtigt werden: Die EU-Richtlinie 2016/2012 über den Zugang öffentlicher Dienstleistungen und die EU-Richtlinie 2019/882 zu Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (vgl. unten); diese Richtlinien sind von den EU-Mitgliedsstaaten in nationales Recht umzusetzen (Umsetzungsfrist für die EU-Richtlinie 2019/882: 28. Juni 2025).
Konzept des barrierefreien Zugangs zu Dienstleistungen in der EU
Das europäische Konzept des "barrierefreien Zugangs" umfasst Grundsätze und Techniken, die bei der Gestaltung, Erstellung, Pflege und Aktualisierung von Websites und mobilen Anwendungen zu beachten sind, um sie für den Nutzer, insbesondere für Menschen mit Behinderungen besser zugänglich zu machen.[6] Die EU-Richtlinie 2016/2012 definiert dazu vier zentrale Prinzipien, die auch in der Richtlinie 2019/882 aufgegriffen werden:[7]
- Wahrnehmbarkeit, d.h., die Informationen und Komponenten der Nutzerschnittstelle müssen den Nutzern in einer Weise dargestellt werden, dass sie sie wahrnehmen können;
- Bedienbarkeit, d.h., der Nutzer muss die Komponenten der Nutzerschnittstelle und die Navigation handhaben können;
- Verständlichkeit, d.h., die Informationen und die Handhabung der Nutzerschnittstelle müssen verständlich sein; und
- Robustheit, d.h., die Inhalte müssen robust genug sein, damit sie zuverlässig von einer Vielfalt von Benutzeragenten, einschliesslich assistiven Technologien, interpretiert werden können.
Die EU-Richtlinie 2019/882 ergänzt, dass die Barrierefreiheit durch die systematische Beseitigung von Barrieren und die Verhinderung des Entstehens neuer Barrieren erreicht werden sollte, vorzugsweise durch die Anwendung eines Konzepts wie "universelles Design" oder "Design für alle", das einen Beitrag zur Sicherstellung eines gleichberechtigten Zugangs für Menschen mit Behinderungen leistet. Diese Konzepte zielen darauf ab, Produkte, Umgebungen, Programme und Dienstleistungen so zu gestalten, dass sie von allen Menschen ohne spezielle Anpassungen oder Designs genutzt werden können.[8]
Deutschland hat die Richtlinie 2019/882 bereits umgesetzt. §3 des Gesetzes zur Umsetzung der Richtlinie (EU) 2019/882 des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen und zur Änderung anderer Gesetze, dass Produkte und Dienstleistungen barrierefrei sind, wenn sie für Menschen mit Behinderungen in der allgemein üblichen Weise, ohne besondere Erschwernis und grundsätzlich ohne fremde Hilfe auffindbar, zugänglich und nutzbar sind.
Damit eine Dienstleistung als barrierefrei gilt, muss sie gemäss Anhang I Abschnitt III der EU-Richtlinie 2019/882 folgende Anforderungen erfüllen:
- Die Bereitstellung von Informationen zur Funktionsweise der Dienstleistung muss sicherstellen, dass sie:
- über mehr als einen einzigen Kanal zugänglich ist;
- in verständlicher Weise präsentiert wird;
- in Formaten vorliegt, die alternative assistive Technologien unterstützen;
- in einer Schriftart mit angemessener Schriftgrösse und geeigneter Schriftform unter Berücksichtigung der vorhersehbaren Nutzungsbedingungen und mit ausreichendem Kontrast sowie anpassbarem Abstand zwischen den Buchstaben, Zeilen und Absätzen dargestellt werden;
- in einer alternativen Darstellung angeboten werden, wenn Elemente mit Nicht-Text-Inhalten enthalten sind; und
- die für die Erbringung der Dienstleistung erforderlichen elektronischen Informationen auf kohärente und angemessene Weise bereitgestellt, indem sie wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gestaltet werden.
- Websites inklusive der zugehörigen Online-Anwendungen und auf Mobilgeräten angebotenen Dienstleistungen, einschliesslich mobiler Apps, müssen auf kohärente und angemessene Weise wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gestaltet werden;
- Wenn Unterstützungsdienste (Help-Desk, Call-Center, technische Unterstützung, Relaisdienste und Einweisungsdienste) verfügbar sind, müssen Informationen über die Barrierefreiheit und die Kompatibilität des Produkts mit assistiven Technologien mit barrierefreien Kommunikationsmitteln bereitgestellt werden.
Für bestimmte Dienstleistungen, insbesondere jene der elektronischen Kommunikation, zur Bereitstellung oder Zugänglichmachung von audiovisuellen Medien oder im Finanzbereich, gelten erweiterte Anforderungen (Anhang I Abschnitt IV der EU-Richtlinie 2019/882). Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr haben folgende Voraussetzungen zu erfüllen, damit sie den Anforderungen der Richtlinie genügen:
- Bereitstellung der Informationen zur Barrierefreiheit der zum Verkauf stehenden Produkte und Dienstleistungen;
- Gewährleistung der Barrierefreiheit der Identifizierungs-, Sicherheits- und Zahlungsfunktionen, wenn diese nicht in Form eines Produkts, sondern im Rahmen einer Dienstleistung bereitgestellt werden, durch deren wahrnehmbare, bedienbare, verständliche und robuste Gestaltung; und
- Bereitstellung von Identifizierungsmethoden, elektronischen Signaturen und Zahlungsdiensten, die wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust sind.[9]
Rechtsschutz nach E-BehiG
Die Revision des BehiG beinhaltet auch eine wesentliche Erweiterung des Rechtsschutzes für Menschen mit Behinderungen. Aktuell beschränkt sich der Schutz von Diskriminierungen bei Dienstleistungen von Privaten auf grob diskriminierendes Verhalten und besonders stossende Benachteiligungen von Menschen mit Behinderungen. Der Schutz vor Diskriminierung durch Private besteht also nur in einem sehr begrenzten Umfang.[10]
Dies soll sich ändern. Menschen mit Behinderungen werden gemäss Art. 8 und 8a E-BehiG gerichtlich verlangen können, dass eine bestehende oder drohende Benachteiligung eines Dienstleisters oder Arbeitgebers beseitigt bzw. verboten wird und sie können auf Schadenersatz und Genugtuung klagen; die Behinderung muss dabei nur "glaubhaft" gemacht werden (Art. 9b E-BehiG) und das Verfahren ist kostenlos (Art. 10 E-BehiG). Das Klagerecht soll nicht nur den Benachteiligten zustehen, sondern auch Organisationen, welche den Zweck haben, die Interessen von Menschen mit Behinderung zu schützen (Art. 9 E-BehiG).
Eine Weigerung des Dienstleisters, die Benachteiligung zu beseitigen, soll nur gerechtfertigt sein, wenn die Anpassung unverhältnismässig wäre oder ein überwiegendes Interesse entgegensteht.
Wie geht es weiter?
Die Inkraftsetzung ist per 1. Januar 2027 geplant – das Parlament wird aber noch über den Entwurf des Bundesrats beraten. Anbieter von Online-Angeboten haben aber bereits ab Juni 2025 die Anforderungen der EU zu berücksichtigen, wenn sie ihr Angebot auf den EU-Markt ausrichten.
Es ist damit zu rechnen, dass EU-Anforderungen mittelfristig auch im Schweizer Markt gelten werden, allenfalls mit einem "Swiss Finish".
Autoren: Elias Mühlemann, Giulia Odermatt
- [1] Botschaft zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes vom 20. Dezember, S. 6.
- [2] Botschaft zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes vom 20. Dezember, S. 12.
- [3] Botschaft zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes vom 20. Dezember, S. 9.
- [4] Botschaft zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes vom 20. Dezember, S. 20.
- [5] Botschaft zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes vom 20. Dezember, S. 20.
- [6] Richtlinie 2016/2012, Rn. 2.
- [7] Richtlinie 2019/882, Rn. 47.
- [8] Richtlinie 2019/882, Rn. 50.
- [9] Richtlinie 2019/882, Anhang I Abschnitt IV; Bei der Umsetzung der Richtlinie 2019/882 in das nationale Recht, hat Deutschland die Voraussetzungen direkt in das eigene Recht übernommen.
- [10] Botschaft zur Änderung des Behindertengleichstellungsgesetzes vom 20. Dezember, S. 19.