
Digital Business Law Bites # 26
Mit der Reihe "Digital Business Law Bites" geben wir einen kleinen Einblick in die Fülle unserer Erfahrungen und Klientenprojekte rund um digitale Geschäftsprozesse.
In vielen Bereichen der Wirtschaft stehen die Schweiz, Europa und auch andere Länder immer wieder unter dem Einfluss von Entwicklungen aus den USA. Im Wirtschaftsrecht sind die Unterschiede zwischen dem US-amerikanischen und dem kontinental-europäischen Rechtskreis vor allem im Prozessrecht deutlich. Während amerikanisches Vertragsrecht nicht diametral zum Vertragsrecht in der Schweiz, in Deutschland oder Frankreich steht, sind die Unterschiede im Prozessrecht signifikant. In den letzten Jahren ist jedoch ein Trend zur Amerikanisierung in diesem Bereich erkennbar. Im digitalisierten Umfeld sollten sich zudem Schweizer Unternehmen rechtzeitig damit bekannt machen.
Class Actions und E-Discovery als Beispiele aus dem US-Prozessrecht
Unterschiede im Prozessrecht lassen sich zum Beispiel an den US-amerikanischen Class-Action-Verfahren besonders eindrücklich darstellen. So kennt die Schweizer Prozessordnung kein Pendant zu US Class Actions (da z.B. die Parteien eines Prozessverfahrens bekannt sein müssen, während man in den USA nicht alle Beteiligten einer sog. Prozessklasse [class] kennen muss).
Ein weiterer diametraler Unterschied zwischen den beiden Systemen ist die Regel, dass die Parteien in einem Schweizer Zivilprozess nur in einem sehr beschränkten Umfang die Herausgabe von Dokumenten und/oder anderen Informationen von der Gegenseite verlangen können. Im Gegensatz dazu können Parteien in US-amerikanischen Prozessen grundsätzlich weitgehende Informationen von anderen Parteien verlangen (sog. Discovery-Verfahren).
Beweismittel sind meist nur digital vorhanden
In diesem Zusammenhang ist die zunehmende Digitalisierung von Informationen von grosser Bedeutung. Gemäss einer amerikanischen Institution (Advisory Committee on Civil Rules) werden 92 % aller Informationen heute in digitaler Form generiert. Etwa 70 % dieser digital generierten Informationen werden nie ausgedruckt, sondern bleiben digital.
Dies bedeutet, dass z. B. Offerten überwiegend nur noch elektronisch gemacht und angenommen werden. Auf Allgemeine Geschäftsbedingungen wird meist durch Verweis auf Websites aufmerksam gemacht, die jederzeit geändert werden können. Postalisch versandte Post und Pakete können heute elektronisch verfolgt (getracked) werden. Eingekauft wird online, Zahlungen werden per E-Banking erledigt, Flugtickets werden per SMS oder E-Mail auf das Mobiltelefon gesandt und von dort geladen, Begriffe wie Clouds, Social Media und Smartphones sind heute allgemeiner Sprachgebrauch und werden von einer grossen Mehrheit privat und beruflich genutzt.
Weiter ist festzustellen, dass weltweit immer mehr E-Mails versandt werden, immer mehr E-Mail-Konten geführt werden und die Digitalisierung über soziale Netzwerke rasant voranschreitet.
Die Verbreitung von digitalen Informationen ist unaufhaltsam und es ist unmöglich zu verhindern, dass eine in der Schweiz erstellte digitale Information nicht irgendwo auf der Welt gespeichert oder verbreitet wird.
Trend zu umfangreicher Datenherausgabe
Im US-amerikanischen Zivilprozess ist bereits seit Jahren ein Trend zu umfangreicher elektronischer Datenedition im Gange, dem sich auch die Schweiz nicht entziehen kann. Die Herausgabe von elektronischen Daten im amerikanischen Zivilprozess wird als E-Discovery bezeichnet. Auch in der Schweiz ist eine zunehmende Amerikanisierung festzustellen.
Dies gilt zunächst im Bereich des Schiedsverfahrensrechts. Während früher in den, zwischen den Parteien und dem Schiedsgericht, vereinbarten prozessualen Zeitplänen das Thema «Discovery» bzw. «E-Discovery» auf dem europäischen Kontinent schlicht kein Thema war, wird heute von Anfang an Zeit für die Edition von (elektronischen Informationen und) Dokumenten eingeplant (allerdings in beschränktem Umfang).
Im Rahmen der Vereinheitlichung des Schweizer Zivilprozesses im Jahre 2011 wurde zudem eine erleichterte Beweisabnahme eingeführt, wonach nicht mehr nur in dringlichen Fällen (wenn später der Beweis nicht mehr zur Verfügung stehen würde) Beweis abgenommen werden kann (Art. 158 ZPO), sondern auch vor oder während des Prozesses (z. B. zur Beurteilung der Prozessrisiken). Diese Neuerung sollte nach dem Willen des Gesetzgebers keine Einführung von Discovery darstellen. Eine Erleichterung der Beweiserhebung ist aber damit jedenfalls erfolgt.
Weiter ist festzustellen, dass schweizerische Unternehmen zunehmend global und digital tätig sind. Oft haben Schweizer Unternehmen Tochtergesellschaften, Filialen, Verkaufsstellen und dergleichen im Ausland. Damit erhöht sich das Risiko, dass z. B. Tochtergesellschaften in den USA unter Druck US-amerikanischer Gerichte verpflichtet werden können, an einer E-Discovery teilzunehmen – diese kann auch Informationen betreffen, die letztlich in der Schweiz liegen. Oder ein Tochterunternehmen einer Schweizer Gesellschaft befindet sich aufgrund von Vertragsbeziehungen mit einer amerikanischen Gruppe auf einmal in einem amerikanischen Prozess, wo auch Dokumente mit Schweizer Bezug gefordert werden. Selbst bei Zivilprozessen in den USA, wo keine Schweizer Partei beteiligt ist, kann es passieren, dass eine dieser Prozessparteien auf der Grundlage des Haager Beweisübereinkommens die Übermittlung von Informationen verlangt, wenn z. B. das Schweizer Unternehmen als Konkurrent (oder Zulieferer von Teilen) im Markt bekannt ist und eine Prozesspartei glaubt, dadurch wichtige Informationen für ihren Prozess erhalten zu können (selbst wenn es sich eigentlich nur um einen Ausforschungsbeweis handelt).
Was könnte alles herauszugeben sein?
Inhaltlich kann sich E-Discovery (wenigstens nach weitreichendem, US-amerikanischem Verständnis) auf folgende Informationen beziehen und es ist heute gerade für Schweizer Unternehmen sinnvoll, sich Gedanken zu machen, wie mit derartigen Forderungen in der Zukunft umzugehen sein wird:
- Unternehmensdaten; Finanzzahlen inkl. Steuer- und Buchhaltungsinformationen;
- Korrespondenz; Faxschreiben (gesendet und erhalten);
- Entwürfe von Dokumenten sowie auch nicht gespeicherte Änderungen in einem Dokument;
- Tabellen und Entwürfe von Tabellen;
- Telefonnachrichten (auch gelöschte);
- Instant-Mitteilungen / Chats (gesendet und erhalten); LinkedIn- und Facebook-Einträge sowie Kommunikationen, welche über Social Media erfolgt sind;
- E-Mails (Outlook bzw. auf Unternehmensservern), Anhänge zu E-Mails;
- Internet Service Provider (ISP) E-Mails wie Yahoo, Googlemail, AOL usw.;
- Ordnernamen / elektronische Pfade und Verzeichnisse, Hauptordnerverzeichnisse;
- Sämtliche Aktivitäten im Internet inklusive Verweildauer auf den jeweiligen Seiten; Bilder inklusive im Internet besuchte Bilder;
- Metadata (Metainformationen sind Daten, die Informationen über Merkmale anderer Daten enthalten, aber nicht diese Daten selbst; bei Büchern sind das z. B. der Autor, der Verlag, das Erscheinungsjahr, die Auflage, bei elektronischen Dokumenten geht es um Verfasser, Zeitpunkt der Erstellung und der vorgenommenen Änderungen, die Frage, wer wann eine Datei geändert hat etc.);
- Ephemeral-Data (temporäre Daten wie RAM oder Caches wie bei IM oder Voice over IP [VOiP]);
- Database-Dateien;
- Files access history von Servern und/oder dem Internet;
- Verlauf Internetsuchen und Suchkriterien;
- Kontaktlisten, Outlook-Kalender;
- Kreditkartennummern und Online-Transaktionen;
- Blogs;
- Inventarlisten von externen Hardwarekomponenten (am Computer angeschlossene Geräte wie Drucker, Back-up-Systeme sowie externe Media-Applikationen); Software-Inventarlisten;
- Gelöschte Daten und Files.
Dieser schier unbegrenzte Umfang an Daten, der zumindest nach amerikanischem Verständnis ohne Weiteres gefordert werden können soll, zeigt, dass es in Zukunft wichtig sein wird, dass sich auch Unternehmen in der Schweiz zu E-Discovery Gedanken machen (Wo werden Daten gespeichert? Wann und wie sollten Daten gelöscht werden? Wie ist vorzugehen, wenn Unternehmen in die USA liefern oder, sofern es Zulieferer sind, ob die Kunden Produkte in die USA verkaufen? Gibt es Wege, um die Herausgabe zu verhindern, z.B. durch geeignete Klassifizierung?). Nicht nur die Wahrscheinlichkeit von E-Discovery für Unternehmen in der Schweiz nimmt zu, auch die schiere Menge an potenziell herauszugebenden Daten.
Solche Verfahren können rasch kostenintensiv, zeitlich langwierig und potenziell schädlich sein.
Autor: Daniele Favalli