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27. Februar 2025

Besprechung des Bundesgerichtsentscheids BGE 150 II 321 – interkantonale Doppelbesteuerung; tatsächliche Verwaltung einer Aktiengesellschaft; Beweismass; Rückerstattung von zu Unrecht bezogenen Steuern.

Sachverhalt

Die A. AG wurde im Jahre 2003 mit statutarischem Sitz im Kanton St. Gallen gegründet. Sie bezweckt den Handel mit Kosmetikprodukten. Im Jahre 2008 wurde der Sitz nach Herisau, Kanton Appenzell Ausserrhoden (AR) verlegt. Im Jahre 2021 stellte das Steueramt des Kantons St. Gallen fest, dass die A. AG seit dem 1. April 2011 bis 31. März 2021 im Kanton St. Gallen aufgrund des Orts der tatsächlichen Verwaltung steuerpflichtig sei. Alle kantonalen Rechtsmittel und die Beschwerde ans Bundesgericht blieben erfolglos.

 

 

Welche Indizien sprachen für die tatsächliche Verwaltung im Kanton St. Gallen?

  • In Herisau verfügte die A. AG lediglich über einen Büroraum von 16.6m2 in einem Untermietverhältnis mit einem Arbeitsplatz für den Geschäftsführer; der Untermietvertrag spricht von Co-Working-Arbeitsplatz inkl. Nutzung der Infrastruktur; Mietpreis CHF 300 pro Monat inkl. Heiz- und Nebenkosten;
  • Vermieterin (eine Treuhandgesellschaft) hat die Zurverfügungstellung ihrer Geschäftsadresse mit Hinweis auf die Begründung eines steuergünstigen Hauptsteuerdomizils beworben;
  • Auf den Visitenkarten der A. AG werde der Standort im Kanton St. Gallen aufgeführt;
  • Zwei Mitarbeiter arbeiten in St. Gallen; lediglich der Geschäftsleiter behauptet, dass er, sofern er im Büro sei, von Herisau aus arbeite; dort könne er in Ruhe arbeiten (Besprechungen, Planung, Ausarbeitung der Strategie);
  • Im Kanton St. Gallen verfügt die A. AG über eine Fläche von 100m2 mit drei Büros und einen Vorraum für Ausstellung sowie Lagerung von Produktemustern grössere Büroräume und ein Lager;
  • Die Internetseite der A. AG verweist für die Kontaktaufnahme auf den Standort im Kanton St. Gallen.
     

Wer hat was zu beweisen?

Das Steuerdomizilverfahren ist vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht. Danach hat das Gericht von Amtes wegen für die richtige und vollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhaltes zu sorgen.

Der Untersuchungsgrundsatz schliesst die Beweislast im Sinne der Beweisführungslast begriffsnotwendig aus, da es Sache des Gerichts (oder der verfügenden Verwaltungsstelle) ist, für die Zusammentragung des Beweismaterials besorgt zu sein.

Welches Beweismass wird verlangt?

Das Beweismass bestimmt den Grad der persönlichen Überzeugung, der vorliegen muss, ehe eine Behörde oder ein Gericht eine bestrittene Sachverhaltskonstruktion als wahr erachten darf.

Das Steuerrecht verlangt gleich wie das Strafprozessrecht als Beweismass die volle Überzeugung. Der Beweis ist erbracht, wenn die beurteilende Behörde (Steuerbehörde oder -gericht) nach objektiven Gesichtspunkten von der Richtigkeit einer Sachbehauptung überzeugt ist. Das Beweismass der vollen Überzeugung ist erreicht, wenn die Behörde am Vorliegen der behaupteten Tatsache keine ernsthaften Zweifel mehr hat oder allenfalls verbleibende Zweifel als gering erscheinen.

Eine Beweiserleichterung muss aber auf jeden Fall möglich sein für Tatsachen, bei denen der volle Beweis schon nach der Natur der Sache - und nicht nur im konkreten Einzelfall - nicht möglich oder nicht zumutbar ist.

Wo die Geschäfte geführt werden und die einzelnen Entscheide getroffen werden, die den Ort der tatsächlichen Verwaltung einer juristischen Person bestimmen, ist eine Tatsache, deren Feststellung für die beweisführungsbelasteten Steuerbehörden regelmässig unmöglich oder zumindest unzumutbar ist.

Im Sinne einer Beweiserleichterung (Senkung des Beweismasses) ist deshalb davon auszugehen, dass sich der Ort der tatsächlichen Verwaltung einer juristischen Person im Kantonsgebiet befindet, sobald eine überwiegende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sich die relevante Geschäftsführung schwergewichtig an einem bestimmten Ort im Kantonsgebiet abspielt.

Droht eine Doppelbesteuerung der A. AG?

Der Kanton AR machte geltend, dass sich die A. AG in Bezug auf die Steuerperioden 2011/12 bis und mit 2014/15 qualifiziert treuwidrig verhalten habe und ihr infolge dieses Verhaltens der Schutz von Art. 127 Abs. 3 BV  (Verbot der interkantonalen Doppelbesteuerung) zu versagen sei. Der Kanton AR führte sodann ins Feld, er habe ein legitimes Interesse daran, die bezogenen Steuern einzubehalten, weil die Gewinne der Beschwerdeführerin in das Ressourcenpotenzial eingeflossen seien, auf dessen Grundlage die Ausgleichszahlungen des Nationalen Finanzausgleichs (NFA) bemessen werden.

Das Bundesgericht erwog, dass es zweifelhaft sei, das Verhalten der A. AG als qualifiziert treuwidrig einzustufen. Es fehle an einem legitimen Interesse des Kantons AR, die zu Unrecht bezogenen Steuern einzubehalten.

Unsere Bemerkungen

Die Behörden und Gerichte haben nicht den vollen Beweis zu erbringen, sondern müssen lediglich im Steuerdomizilverfahren glaubhaft machen, dass sich die relevante Geschäftsführung schwergewichtig an einem bestimmten Ort im Kantonsgebiet abspielt.

Die Hürden an ein qualifiziert treuwidriges Verhalten, das den Schutz vor einer interkantonalen Doppelbesteuerung versagen könnte, sind relativ hoch gesteckt.

Das Bundesgericht lies die Frage, ob eine versuchte Steuerhinterziehung im Kanton St. Gallen vorliegen könnte ungeklärt. Nach unserer Auffassung kann mangels einer Pflichtverletzung im Steuerdomizilverfahren keine Steuerhinterziehung vorliegen.

Autor: Tobias F. Rohner

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