
1. Einleitung
Am 1. Januar 2022 tritt das neue (teilrevidierte) Versicherungsvertragsgesetz (VVG) in Kraft. Nebst viel Vertrautem enthält es zahlreiche Neuerungen, die den Schutz der Versicherungsnehmer und Anspruchsteller verbessern sollen. Die markanteste Änderung dürfte die Einführung eines allgemeinen direkten Forderungsrechts gegen den Versicherer sein. Eine nähere Betrachtung zeigt jedoch, dass die Wirkung dieser Neuerung sowohl für die Versicherer als auch für potentielle Anspruchsteller zu relativieren ist.
2. Was ändert sich?
Das direkte Forderungsrecht ist bereits aus dem Strassenverkehrsgesetz (SVG) bekannt. Nach dessen Art. 65 hat der Geschädigte im Rahmen der vertraglichen Versicherungsdeckung ein Forderungsrecht unmittelbar gegen den Versicherer, wobei ihm weder Einreden aus dem Versicherungsvertrag noch aus dem VVG entgegengehalten werden können.
Ein solches direktes Forderungsrecht bringt für den Geschädigten einige Vorteile. So trägt der Versicherer das Risiko einer allfälligen Insolvenz des haftpflichtigen Versicherungsnehmers und der Geschädigte kann seinen Anspruch gegenüber einem professionellen Ansprechpartner geltend machen. Damit dürfte die Abwicklung des Schadenfalls oft ohne Involvierung der Gerichte und damit zumindest in der Tendenz zügiger und kostengünstiger von statten gehen.
Ab dem 1. Januar 2022 soll jeder, der einen Haftpflichtanspruch hat, seinen Anspruch direkt gegenüber dem Haftpflichtversicherer des haftpflichtigen Versicherungsnehmers, der nicht mit der Person des unmittelbaren Schädigers übereinstimmen muss, geltend machen können (Art. 60 Abs. 1bis nVVG). Um dieses direkte Forderungsrecht überhaupt durchsetzen zu können, räumt das Gesetz dem Geschädigten neu auch einen Anspruch auf Mitteilung der zuständigen Versicherung sowie Art und Umfang der Versicherungsdeckung ein (Art. 60 Abs. 3 nVVG). Das Auskunftsbegehren ist dabei an den haftpflichtigen Versicherungsnehmer oder die FINMA als zuständige Aufsichtsbehörde zu richten.
3. Bedeutung für die Praxis
Die Bedeutung dieser markanten Änderung ist aus verschiedenen Gründen zu relativieren:
- Der Geschädigte hat sich grundsätzlich – anders als im SVG vorgesehen – die gesetzlichen und vertraglichen Deckungseinreden entgegenhalten zu lassen. Immerhin sind solche Einreden im Bereich von obligatorischen Haftpflichtversicherungen teilweise ausgeschlossen: In diesen Fällen kann der Versicherer der Forderung Einreden aus grobfahrlässiger oder vorsätzlicher Verursachung des versicherten Ereignisses, Verletzung von Obliegenheiten, unterbliebener Prämienzahlung oder einem vertraglich vereinbarten Selbstbehalt nicht entgegenhalten (Art. 59 Abs. 3 nVVG).
- Zu berücksichtigen ist auch, dass die Neuerung den Geschädigten im Falle einer gerichtlichen Auseinandersetzung nicht von der Kostenvorschusspflicht befreit. Diese kann nach wie vor eine Erschwernis bei der Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen darstellen. Der zu entrichtende Kostenvorschuss bestimmt sich anhand der Höhe der eingeklagten Forderung. Die Kostenvorschusspflicht kann damit insbesondere bei sehr hohen Schadenersatzforderungen einer gerichtlichen Geltendmachung entgegenstehen.
- Der Geltungsbereich der absolut zwingenden Bestimmungen und der relativ zwingenden Bestimmungen ist eingeschränkt. Das direkte Forderungsrecht gemäss Art. 60 nVVG (absolut zwingend) sowie der beschränkte Einredeausschluss nach Art. 59 Abs. 3 nVVG (relativ zwingend) gelten nicht bei Kredit- oder Kautionsversicherungen, soweit damit berufliche und gewerbliche Risiken abgedeckt werden, Transportversicherungen und sogenannt professionellen Versicherungsnehmern (Art. 98a nVVG). Versicherer können in diesen Bereichen vom VVG abweichende Regelungen vorsehen – auch zu Ungunsten des Versicherungsnehmers oder potentieller Anspruchsteller.
Wer als professioneller Versicherungsnehmer gilt, definiert das Gesetz abschliessend (Art. 98a Abs. 2 nVVG). Darunter fallen unter anderem Unternehmen mit professionellem Risikomanagement oder Unternehmen, die zwei der drei folgenden Grössen überschreiten: 1. Bilanzsumme: CHF 20 Millionen; 2. Nettoumsatz: CHF 40 Millionen; 3. Eigenkapital: CHF 2 Millionen.
4. Fazit
Im Einzelfall führt die Neuerung zu einer Verbesserung der Position von geschädigten Parteien. Aufgrund der weitgehenden Einredemöglichkeiten des Versicherers und des eingeschränkten Anwendungsbereichs des direkten Forderungsrechts bleibt abzuwarten und ist fraglich, ob diese Neuerung im Vergleich zum status quo zu einem wesentlichen Anstieg an Klagen gegen Versicherer und an von diesen auszurichtenden Schadenszahlungen führen wird.
Autoren: Daniele Favalli, Dorothée Krapf